22.03.2014

Westfalen-Blatt: 16, 17 oder doch schon 18?

Zeitungsausschnitt

Ostwestfalen-Lippe/NRW - Seite 3

Zur Altersbestimmung schickt das Amtsgericht junge Flüchtlinge zum Röntgen – Kritik kommt vom OLG

Von Christian Althoff

Bielefeld (WB). Wenn unklar ist, wie alt unbegleitete junge Flüchtlinge sind, schickt das Amtsgericht Bielefeld die Betroffenen schon mal zur Röntgenuntersuchung – nach Überzeugung des Oberlandesgerichts Hamm allerdings ohne Rechtsgrundlage.

Was macht man mit Kindern und Jugendlichen, die ohne ihre Eltern aus ihrer Heimat geflohen sind und an der deutschen Grenze aufgegriffen werden? In Nordrhein-Westfalen landen sie vor allem in Bielefeld und Dortmund, wo es seit 2011 spezielle Einrichtungen gibt. In Bielefeld sind das fünf sogenannte Clearing-Häuser, die von der Arbeiterwohlfahrt und anderen Trägern unterhalten und aus Jugendhilfemitteln finanziert werden. Dort leben derzeit 91 Jungen und Mädchen, die durchschnittlich 16 Jahre alt sind, unter der Obhut des Jugendamts. Sie wohnen in Ein- oder Zweibettzimmern, werden ärztlich versorgt und bekommen Deutschunterricht. »Die meisten haben Schreckliches erfahren, und es ist gut, dass sie hier erst einmal zur Ruhe kommen«, sagt eine Mitarbeiterin eines Clearing-Hauses.

Navid ist so ein junger Flüchtling. Er stamme aus Afghanistan, sei aber bei seiner Großmutter im Iran aufgewachsen, erzählt er in verständlichem Deutsch. »Die Iraner wollten uns loswerden. Sie haben unsere Aufenthaltsgenehmigungen vor unseren Augen zerschnitten und wollten uns nach Afghanistan abschieben.« Nach einer Odyssee kam er mit einem falschen rumänischen Pass in einem Flugzeug in Weeze im Kreis Kleve an und wurde nach Bielefeld geschickt.

Navid fand in Bielefeld nicht nur Unterkunft in einem Clearing-Haus, er konnte hier auch zur Schule gehen. Im »Berufskolleg am Tor 6«, das sich um Jugendliche mit Startschwierigkeiten kümmert, paukte er, um sich die Voraussetzung für ein selbständiges Leben in Deutschland zu schaffen. Bis er von einem Tag auf den anderen die Schule verlassen und aus dem Clearing-Haus ausziehen musste. Schulleiterin Anette Seyer: »Navid ist kein Einzelfall. Es kommt immer wieder vor, dass Schüler plötzlich nicht mehr kommen, weil die Behörden sie als volljährig einstufen. Dann werden sie von etzt auf gleich einem Asylbewerberheim in einer x-beliebigen Stadt zugewiesen.«

Navid sagt, er werde in Kürze 18. Seine deutschen Papiere sagen, er sei 20. Festgesetzt wurde das Alter vom Amtsgericht Bielefeld. Georg Epp, Leiter des Bielefelder Jugendamts: »Wir sind der Auffassung, dass jeder junge minderjährige Flüchtling einen Vormund haben sollte, den das Amtsgericht zu bestimmen hat. In diesem Zusammenhang prüft das Gericht, wie alt der Junge oder das Mädchen ist und veranlasst entsprechende Untersuchungen durch Rechtsmediziner der Uni Münster.« Navid: »Ich bin mit zwei anderen Jungen und einem Mädchen dort hingefahren. Ich musste mich nackt ausziehen. Es wurden Fotos von meinen Händen und meinem Kiefer gemacht.« Schulleiterin Anette Seyer kritisiert dieses Verfahren: »Es ist für manche Jugendliche aus anderen Kulturen unvorstellbar, sich nackt zu zeigen. Wir hatten den Fall eines Schülers aus Bangladesch, der die Untersuchung verweigert hat. Das wurde bei der Altersfestsetzung zu seinen Lasten ausgelegt, weil er seiner gesetzlich vorgeschriebenen Mitwirkung bei der Aufklärung der Altersfrage nicht nachgekommen ist.«

In Navids Fall schrieben die Rechtsmediziner in ihr Gutachten, sein  ́Alter liege zwischen 17,5 und 20 Jahren. Das Amtsgericht Bielefeld stufte ihn darauf als volljährig ein. Gerichtssprecherin Anett Poßecker: »Die Richter stützen sich in solchen Fällen aber nicht nur auf die Gutachten der Rechtsmedizin. Sie verschaffen sich auch einen persönlichen Eindruck, und manchmal gibt es ja auch Unterlagen, aus denen sich Hinweise auf den Geburtstag ergeben.«

Während die Rechtsmediziner bei Navid eine Standarduntersuchung vornahmen und sexuelle Reifezeichen, Gewicht, Größe, Körperbau und Zahnstatus notierten, gibt es andere Fälle, in denen die Jugendlichen zusätzlich geröntgt werden. Jugendamtsleiter Georg Epp: »Wir halten das für einen unzulässigen und zu gravierenden Eingriff.« Deshalb sei man im Fall eines Jungen, bei dem das Amtsgericht Bielefeld in einem Beweiserhebungsbeschluss das Röntgen gefordert habe, zum Oberlandesgericht gegangen und habe Beschwerde eingelegt. Im Januar habe das Gericht die Auffassung des Jugendamts bestätigt. OLG-Sprecher Christian Nubbemeyer: »Der Senat ist der Auffassung, dass es keine gesetzliche Grundlage für so eine Untersuchung gibt. Paragraph 25 der Röntgenverordnung regelt, wann ein Mensch geröntgt werden darf. Eine Untersuchung zur Altersbestimmung zählt nicht dazu.«

Ohnehin ist die Beweiskraft von Röntgenaufnahmen zur Altersfeststellung umstritten. Dr. Winfried Eisenberg, der bis 2002 die Kinderklinik Herford geleitet hat, hat viel Erfahrung mit Röntgenuntersuchungen des Knochenalters. So fertigen Kinderärzte Aufnahmen des linken Handgelenks, um das Lebensalter mit dem Skelettalter zu vergleichen und zu klären, ob ein Kind möglicherweise von krankhaftem Kleinwuchs oder übermäßigem Hochwuchs betroffen ist. 2012 schrieb Eisenberg in einem Aufsatz, diese Methode tauge hingegen nicht zur Altersabschätzung. Eisenberg: »Das angenommene Knochenalter kann vom tatsächlichen Alter um zwei bis drei Jahre nach oben oder unten abweichen. Nur in einem Viertel der Fälle stimmen Knochenalter und tatsächliches Alter überein.«

Navid wurde, weil er jetzt auf dem Papier 20 Jahre alt ist, einem Asylbewerberheim in Weeze zugewiesen. Er geht nicht mehr zur Schule und hat seinen Freundeskreis in Bielefeld verloren. Seine Zeit vertreibt er sich mit Fußballspielen. Seine frühere Schulleiterin Anette Seyer meint, dass es in Fällen wie diesem nur Verlierer gebe: »Aus einem motivierten Jungen mit Hoffnung auf ein neues Leben ist ein enttäuschter Mensch geworden, der in eine unsichere Zukunft blickt. Und die Arbeit, die im Clearing-Haus und an unserer Schule geleistet wurde und für die der Steuerzahler aufgekommen ist, ist größtenteils hinfällig.«