04.08.2015

Neue Westfälische: Neue Heimat Bielefeld

Zeitungsausschnitt

Lokales Bielefeld - Seite 10

Vor 25 Jahren gelang es erfolgreich, Tausende Aussiedler unterzubringen

VON ARNO LEY

Bielefeld. Das wirtschaftliche Wachstum von Bielefeld ist untrennbar verbunden mit der Zuwanderung in die Stadt. Mit dieser These konfrontierte der damalige Ordnungsdezernent Jürgen Heinrich* 1993 die Teilnehmer beim Capyttel, dem Jahresessen des Verkehrsvereins. Mit Mühen hatte die Stadt in wenigen Monaten rund 10.000 Zuwanderer aus Osteuropa aufgenommen. Zugleich kamen Flüchtlinge aus anderen Regionen der Welt. Das Sozialsystem ist unter der Last nicht zusammengebrochen, die Nachbarschaften aber wurden bunter.

Wer den aktuellen Flüchtlingsstrom und die daraus entstehenden Probleme betrachtet, wird sich vielfach an Ereignisse vor gut 25 Jahren erinnert fühlen. Notunterkünfte, die den täglich neu eintreffenden Menschen kein Bett mehr anbieten können. Damals wie heute mussten sie zeitweilig in Turnhallen untergebracht werden, die provisorisch hergerichtet wurden. Damals wie heute wurden die Flüchtlinge in ehemaligen Schulen einquartiert.

Doch im Vergleich wirken die heutigen Zahlen gering. Bielefeld rechnet damit, dass der Stadt in diesem Jahr 1.400 Flüchtlinge zugewiesen werden. Während sich die Sowjetunion auflöste und die DDR zusammenbrach, kamen 1.000 Übersiedler allein im April 1990. 1989 mussten 3.663 untergebracht werden, 1988 insgesamt 4.434. Und gleichzeitig kamen Tausende Flüchtlinge aus anderen Teilen der Welt.

Bielefeld nutzte gebrauchte Wohnwagen als Unterkünfte. Verwaltung und Stadtrat starteten ein Programm der 1.000 Häuser. Innerhalb weniger Monate wurden in Heepen, Milse und der Senne neue Wohnviertel errichtet. Die Politiker damals hatten die Herausforderung angenommen und sie reagierten entsprechend. Nicht Verweigerung und Ausgrenzung boten die Lösung, sondern Deutschkurse, Bauen, Umschulen und Arbeitsvermittlung.

Ähnlich pragmatisch hat die Stadt auch Fluchtwellen von Kurden aus der Türkei, von Minderheiten aus Sri Lanka, Kriegsflüchtlingen aus dem Irak und aus Bosnien aufgenommen. Bielefeld beheimatet eine der größten Gemeinden von Tamilen bundesweit und eine der Religionsgemeinschaft der Jesiden. Als sie kamen, wollten sie alle eigentlich bald in ihre Herkunftsländer zurückkehren. Inzwischen haben viele der einstigen Flüchtlinge die deutsche Staatsbürgerschaft.

Jürgen Heinrich gab in seiner Rede 1993 - zu einem Zeitpunkt, als wegen des Bürgerkriegs im ehemaligen Jugoslawien mehr Flüchtlinge als je zuvor in Deutschland Schutz suchten - einen Streifzug durch die Geschichte der Stadt. Er erinnerte daran, dass aus wirtschaftlicher Not vor kaum mehr als 150 Jahren Menschen dieser Region ihre einzige Zukunft in der Ferne sahen. Zwischen 1849 und 1859 sind 2.576 Menschen aktenkundig aus dem Kreis Bielefeld ausgewandert. Die Stadt Bielefeld hatte damals zwischen 10.000 und 12.500 Einwohner.

Nach dem Zweiten Weltkrieg war jeder fünfte Einwohner ein Flüchtling. Sie wurden zunächst vielfach ausgegrenzt. Heinrich zitierte einen Bericht des damaligen Oberkreisdirektors aus dem August 1946: Die "eingesessene Bevölkerung" habe "in den letzten Wochen und Monaten immer mehr unter Anwendung von mehr oder weniger starkem Druck, unter Androhung von gerichtlichen Strafen und teilweise unter Überwindung körperlichen Widerstandes zur Aufnahme der Flüchtlinge gezwungen werden" müssen.

Heute leben in Bielefeld rund 41.000 Ausländer, 33.000 Menschen, die eingebürgert wurden, 39.000 Aussiedler und 215.000 Bürger "ohne erkennbaren Migrationshintergrund", wie es in der amtlichen Statistik verschwiemelt heißt. Die meisten von denen dürften auch Zugezogene sein, denn pro Jahr verlassen rund 15.000 Menschen die Stadt. 16.000 andere kommen gleichzeitig hierher. Das bedeutet: 1.400 Flüchtlinge in einem Jahr sind selbst nur ein geringer Teil der stetigen Wanderungsbewegung - und gerade mal 0,4 Prozent der Gesamtbevölkerung.

In den 1990er Jahren gab es überall in Deutschland, so auch in Bielefeld, viel mehr Notunterkünfte. Die wurden danach geschlossen und eingespart in der trügerischen Hoffnung, dass Deutschland sich von den politischen Katastrophen der Weltpolitik fernhalten könne.

* Der Sozialdemokrat Jürgen Heinrich war von 1985 bis 1994 Ordnungsdezernent der Stadt und zeitweilig auch Stadtdirektor. Von 1997 bis zu seinem Ruhestand 2007 war er in der Geschäftsführung der OWL Marketing GmbH tätig. Er ist jetzt Geschäftsführer der Westfälisch-Lippischen Universitätsgesellschaft.