30.08.2012

Neue Westfälische: Angekommen in Sennestadt

Zeitungsausschnitt

Seite 20 - Lokales Stadtteile

Clearingstelle Fichteheim besteht seit einem Jahr / Voll belegt

VON SILKE KRÖGER

Sennestadt. Die ehemalige Waldgaststätte Fichteheim zieht noch immer Wanderer und Spaziergänger auf der Suche nach einer kühlen Erfrischung an. Sie werden freundlich empfangen, auch wenn kein Bier, Wein und Schnaps ausgeschenkt wird: Seit einem Jahr logiert dort die „Clearingstelle für minderjährige Flüchtlingsjungen“ des Vereins Wohngemeinschaften. „Aber Wasser oder Kaffee gibt es bei uns immer“, sagt die stellvertretende Leiterin Marie-Theres Gellrich und lacht.

Schon vor dem Einzug der Clearingstelle hatte es in Sennestadt viel Gerede, viele Ängste und Sorgen gegeben. Kaum einer konnte so richtig einschätzen, was da in den stillen Senne-Wald kam. Doch inzwischen hat sich die Aufregung gelegt. „Wir sind in Sennestadt angekommen“, sagt Vereinsgeschäftsführer Klaus Henning erfreut.

Vor dem Einzug musste von Grund auf saniert werden: Decken wurden heruntergerissen, Fußböden erneuert, Zimmer renoviert, Schimmel musste entfernt werden. Dazu kamen umfangreiche Feuerschutzmaßnahmen. „Das Haus war völlig heruntergekommen“, erinnert sich Henning, noch im Nachhinein kopfschüttelnd, wie es soweit kommen konnte. „Das mag hier durchaus mal eine Idylle gewesen sein, aber das war es seit langem nicht mehr.“

Die alte Waldgaststätte wurde für die neuen Bewohner völlig umgestaltet. Jetzt gibt es darin drei Einzel- und sieben Doppelzimmer – sie sind alle belegt–, eins davon für einen Betreuer, eine große Küche, in der die Jungen täglich schmackhafte Gerichte zubereiten, einen Hobbykeller mit Kicker, Tischtennisplatte und Billardtisch. Und einen großzügigen Gemeinschaftsraum: In dem ehemaligen Schankraum steht noch die Holztheke, zu einem wahren Schmuckstück aufpoliert. „Die wollten wir unbedingt erhalten“, erzählt Henning. „Sie ist jetzt international.“ Ob Afghanistan, Bangladesh, Somalia, Guinea, Deutschland, Algerien, Syrien, Sri Lanka oder Irak, viele Landesfarben schmücken sie.

Für die Betreuer sei es „immer wieder ein Erlebnis, wie harmonisch das alles hier abläuft“, unterstreicht Henning. „Und die Jungen sprechen zwar nicht eine Sprache, aber sie helfen sich gegenseitig – das ist eine klasse Leistung.“ Denn viele haben vor ihrer Ankunft in Sennestadt alles andere als friedlich-harmonische Erfahrungen gemacht. „Sie sind traumatisiert, wurden in ihrem Heimatland oder auch während der Flucht misshandelt“, weiß Marie-Theres Gellrich. „Es überhaupt bis hierher zu schaffen ist beeindruckend."

Als erste Anlaufstelle sei das Fichteheim ideal, meint Henning nach einem Jahr Erfahrung. „Wir müssen zwar sehr weit fahren, bis wir hier sind, aber die Jungs finden hier die Ruhe, die sie nach dem schrecklichen Stress dringend brauchen. Aber was die meisten am nötigsten haben, ist Zeit. Zeit, um das, was sie erlitten haben, zu verarbeiten.“ Immerhin rund drei Monate haben sie dafür im Fichteheim. Die werden auch zum Lernen intensiv genutzt: Alltägliches wie Busfahren gehört dazu, das Essen, die deutsche Sprache, dass hier Geburtstage gefeiert werden und Kinder regelmäßig zur Schule gehen. Auch die Jungs vom Fichteheim tun das, etwa in die Marktschule in Brackwede. „Sie freuen sich darüber, lernen zu dürfen“, sagt Betreuerin Sigrid Mühlbauer.

Die Freizeit sei im Fichteheim „sehr sportlastig“, erzählt Gellrich. Sehr beliebt sind Fußball, Badminton und Basketball, aber auch Kricket (mit selbstgebastelten Schlägern), Schwimmen, Fahrrad fahren. Manches ist nur möglich, weil es immer wieder Spender gibt. Einfache Räder werden zur Zeit wieder gebraucht, „kein Hightech“, betont Mühlbauer – viele Jugendliche lernten Radfahren erst im Fichteheim. Gut genutzt wird die Stadtbibliothek, aber auch die eigenen zwei kleinen Computerräume. Henning: „Da gibt’s eine schriftliche Liste – wir haben ja 16 Jungs, die alle gerne an den Computer wollen.“

Mit den Sportfreunden Sennestadt will der Verein jetzt über eine mögliche „temporäre Mitgliedschaft“ für die Jungen sprechen. Henning: „Sie sind ja nur vorübergehend hier. Aber wenn sie in Deutschland bleiben, hätten sie hier auch mal das Vereinsleben kennen gelernt.“

[Foto 1] Erinnerung an alte Zeiten: Die Holztheke der ehemaligen Waldgaststätte, von Grund auf gesäubert und aufpoliert, schmückt heute den Gemeinschaftsraum. Klaus Henning, Geschäftsführer des Vereins Wohngemeinschaften, und die stellvertretende Leiterin des Fichteheims, Marie-Theres Gellrich, freuen sich, dass das alte Schmuckstück erhalten bleiben konnte. FOTOS: SILKE KRÖGER

[Foto 2] Originelle Vokabelhilfe: Auf vielen Türen kleben kleine Hinweisfotos mit Erklärung – wie hier an der Tür zu den Duschen.

INFO: Erste Anlaufstelle

  • Die 14- und 15-jährigen Jungen werden dem Fichteheim von der zentralen Ausländerbehörde zugewiesen.
  • Nach ein paar Tagen Eingewöhnung wird in einem Erstgespräch versucht, mehr über die Neuankömmlinge zu erfahren – woher sie kommen, wie alt und warum sie geflüchtet sind.
  • Sie werden ärztlich komplett durchgecheckt, gehen dann in die Marktschule oder zum Internationalen Bund zu Alphabetisierungskursen.
  • Zu Schul- und Freizeiteinrichtungen fahren die Jungen selbstständig mit Bus und Bahn. Dabei entstehen mitunter auch spontane Kontakte. 52 Minuten brauchen die Jungen für den Weg in die Stadt.
  • Rechtliche Hilfe leistet der Arbeitskreis Asyl.
  • Infos: www.wohngemeinschaften-bielefeld.de