Neue Westfälische: Als die Stadt zur Hausbesetzerin wurde
Johannes Kramer erinnert sich an die Massenzuwanderung aus Osteuropa, beschreibt Ähnlichkeiten zu heute und Unterschiede
Bielefeld. Johannes Kramer war von 1989 bis 1997 Sozialdezernent der Stadt Bielefeld. Danach war er bis 2012 Geschäftsführer der Städtischen Kliniken. Der 68-jährige Christdemokrat ist noch immer in vielen sozialen Initiativen ehrenamtlich tätig. So setzt er sich für eine Verständigung von Israelis und Palästinensern ein und eine Partnerschaft Bielefelds mit der Stadt Jenin im Westjordanland. Arno Ley sprach mit ihm über die Zeit, als in Bielefeld viele Menschen aus Russland, Kasachstan und Polen eine neue Heimat gefunden haben.
Herr Kramer, Sie kamen 1989 als Sozialdezernent nach Bielefeld und hatten als wichtigste Aufgabe gleich Tausende Zuwanderer in der Stadt aufzunehmen.
JOHANNES KRAMER: Ja, nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion kamen viele Menschen aus Osteuropa hierher. Sie wurden übrigens nicht mit Begeisterung empfangen, weil wir hier für das damalige Empfinden eine hohe Arbeitslosigkeit hatten. Angesichts der Bilder vom Krieg in Syrien und den Flüchtlingen auf dem Mittelmeer gibt es heute vermutlich mehr Sympathie für Asylsuchende.
Die Zuwanderer damals bekamen aber doch verhältnismäßig einfach einen deutschen Pass.
KRAMER: Das trifft nur für eine Teil der Menschen zu, die nach Bielefeld kamen, vor allem für die Aussiedler aus der ehemaligen Sowjetunion und aus Polen. Wenn ich mich richtig erinnere, kamen gleichzeitig aber fast ebenso viele Flüchtlinge aus dem ehemaligen Jugoslawien, zudem Kurden aus der Türkei und Afrikaner aus Nigeria und Ghana.
Gab es damals ähnliche Probleme, die Menschen unterzubringen?
KRAMER: Es kamen in kurzer Zeit viel mehr Menschen und die Unterbringung konnte zunächst viel weniger gesteuert werden. Ich kann mich noch gut daran erinnern, wie Jürgen Heinrich (*siehe oben) und ich in Düsseldorf für Ostwestfalen-Lippe verhandelt haben. Die Zentrale Ausländerbehörde, kurz ZAB, war ein Ergebnis dieser Gespräche. Die heutige Erstaufnahmestelle ist also ein Ergebnis unserer damaligen Erfahrungen. Dadurch wurde vieles einfacher.
Die ZAB ist noch heute in einer ehemaligen Kaserne am Stadtholz ansässig.
KRAMER: Ja, aber wer erinnert sich noch daran, dass die Stadt Bielefeld dort damals auch zur Hausbesetzerin wurde? Das Gelände mit allen Gebäuden gehörte der Bundesvermögensverwaltung. Die wollten einen Teil an das Technische Hilfswerk geben. Doch wir suchten dringend Wohnraum. Da haben wir einfach Aussiedler im ehemaligen Kasino untergebracht. Später haben uns das Verwaltungsgericht Minden und das Oberverwaltungsgericht Münster sogar Recht gegeben. Wenn Wohnraum lange leersteht und dringend gebraucht wird, kann man ihn in Beschlag nehmen.
Die Stadt war aber nicht nur Hausbesetzerin. Damals wurden innerhalb kurzer Zeit ganze Viertel neu gebaut.
KRAMER: Es gab das Programm der 1.000 Häuser. Am Okapiweg in Senne, am Rüggesiek in Heepen und an der Robert-Bracksiek-Straße in Milse wurde gebaut. Wir hatten damals Menschen in verschiedensten Übergangswohnungen untergebracht, viele auch im Haus Oelmühlenstraße 28 auf dem Gelände der Städtischen Kliniken. Später habe ich dort als Geschäftsführer mein Büro gehabt.
Ist die Situation 1989/90 also unmittelbar vergleichbar mit dem aktuellen Geschehen?
KRAMER: Nein. Heute ist zunächst einmal unklar, wie lange die Menschen bei uns bleiben werden. Damals war klar, dass zumindest die Aussiedler nicht mehr in ihre Herkunftsländer zurückkehren würden. Wir haben also alle Anstrengungen unternommen, sie hier einzubürgern.
Darüber war die Politik sich also einig?
KRAMER: Im Rat gab es dafür immer eine Mehrheit. Aber wenn wir in die Bezirke kamen, gab es oft Widerstand. Zum Teil haben dieselben Leute im Rat für und in der Bezirksvertretung gegen unsere Pläne entschieden. Ich bin damals manchmal persönlich von Haustür zu Haustür gegangen, um die Nachbarn zu überzeugen. Dass die Stadt heute erfolgreich um ehrenamtliche Mithilfe bitten kann, war damals für uns undenkbar.
Glauben Sie, dass die Kriegsflüchtlinge beispielsweise aus Syrien kurzfristig wieder in ihre Heimat zurück können und dies auch wollen?
KRAMER: Ich kenne einen Arzt in Kassel, der aus Syrien stammt. Mit dem habe ich gerade noch persönlich gesprochen. Der wird versuchen, seine ganze Familie bei sich unterzubringen. Die wollen eigentlich in ihre Heimat zurück.
Glauben Sie, dass es in Syrien kurzfristig Frieden geben wird und sich dort die Lebensverhältnisse danach rasch normalisieren?
KRAMER: Nein.
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