30.06.2015

Grundrechte und Hilfebedarf minderjähriger Flüchtlinge in den Mittelpunkt stellen

Am 6. und 7. Juni 2015 fand in Berlin die Internationalen Fachkonferenz "Best Practice for Young Refugees" statt. Ein breites Spektrum von Berufsgruppen und Engagierten nahm an der Konferenz teil. Auch Mitarbeiter_innen des AK Asyl e.V. waren dabei. Die Zusammenfassung der Konferenz mündete nun in einer Berliner Erklärung "Grundrechte und Hilfebedarf minderjähriger Flüchtlinge in den Mittelpunkt stellen", die der AK Asyl e.V. unterzeichnet hat.

Screenshot Berliner Erklärung

Berliner Erklärung: Grundrechte und Hilfebedarf minderjähriger Flüchtlinge in den Mittelpunkt stellen

Nach der “Internationalen Fachkonferenz zur Einschätzung des Alters, Entwicklungsstandes und Hilfebedarfs von unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen“ in Berlin am 6./7. Juni 2015 erklären die Unterzeichnenden:

Mit der UN-Konvention für die Rechte des Kindes erkennen alle Unterzeichnerstaaten einen besonderen Schutzbedarf von Minderjährigen an. Bei allen sie betreffenden Maßnahmen ist das Wohl des Kindes vorrangig zu berücksichtigen (Art. 3). Zu den Grundrechten zählen die medizinische Versorgung, die Bildung sowie in besonderem Maße Menschenwürde und körperliche Unversehrtheit. Die Fürsorgepflicht für Minderjährige gilt unabhängig von deren Staatsangehörigkeit.

Minderjährige, die ohne ihre Eltern vor Kriegshandlungen, körperlicher und sexueller Gewalt oder extremer Armut fliehen mussten, haben einen besonders großen Schutzbedarf aufgrund von Traumatisierung und lebensgefährlicher Flucht. Oft können sie ihr Alter nicht durch Dokumente nachweisen.

Dann müssen sie sich einer Alterseinschätzung unterziehen, die in den EU-Staaten, aber auch in den deutschen Bundesländern unterschiedlich gestaltet wird. Die Verfahren reichen von Interviews und psychosozialem Clearing bis hin zu aufwändigen medizinischen Altersgutachten. Dazu werden eine körperliche Untersuchung einschließlich der äußeren Geschlechtsorgane, Röntgenuntersuchungen der Hand und des Gebisses sowie eine Computertomographie der Schlüsselbeine eingesetzt. Die Tests werden von Kinderärzten, Rechtsmedizinern, Zahnärzten oder Radiologen durchgeführt.

Durch diese medizinischen Untersuchungen kann lediglich die biologische Reife (Pubertätsstadien, Knochen- und Zahnalter) eingeschätzt werden, nicht jedoch das chronologische Alter. Dieses wird im Gutachten angegeben als wahrscheinliches Alter (teilweise mit Konfidenzintervall), als Mindestalter oder als Wahrscheinlichkeit, minderjährig zu sein. Alle diese Angaben sind jedoch mit einer hohen Ungenauigkeit behaftet, die selten offengelegt wird.

Darüber hinaus ist es ethisch sehr problematisch, dass junge Flüchtlinge ohne medizinische Indikation Röntgenstrahlen oder einer Untersuchung intimer Körperteile ausgesetzt werden, selbst wenn sie dem formal zugestimmt haben. Oft unterschreiben die Betroffenen unter Druck und in Unkenntnis der Tragweite und Bedeutung der Untersuchungen. Dies ist keine wirksame Einwilligung.

Die Unterzeichnenden möchten eine Willkommenskultur für die jungen Flüchtlinge erreichen, die nicht auf eine ungenaue Schätzung ihres Alters fokussiert ist, sondern ihren Hilfebedarf in den Mittelpunkt stellt.

  • Sie fordern, bei allen Untersuchungen die körperliche und psychische Unversehrtheit und die Menschenwürde der jungen Flüchtlinge zu wahren.
  • Sie lehnen die Anwendung ionisierender Strahlen außerhalb einer medizinischen Indikation ab.
  • Sie verurteilen die ethisch inakzeptable Durchführung von Untersuchungen ohne wirksame Einwilligung.
  • Sie stellen fest, dass die biologische Reife (Pubertätsstadium, Knochen- und Zahnalter) im Vergleich zum chronologischen Alter eine hohe Schwankungsbreite aufweist, so dass Altersschätzungen auf ihrer Basis sehr ungenau sind und häufig falsch interpretiert werden.
  • Sie fordern - statt aufwändiger, teurer und ungenauer Altersdiagnostik ohne Nutzen für die Betroffenen - die bundesweite Einführung einer Jugendvorsorgeuntersuchung für alle unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge. Diese erfasst Entwicklungsstand und medizinischen wie psychologischen Hilfebedarf und unterstützt eine ganzheitliche Einschätzung der Reife.
  • Sie betonen, dass alle jungen Flüchtlinge so untergebracht und betreut werden sollen, dass ihre spezifischen Bedürfnisse berücksichtigt sind, einschließlich eines raschen Zugangs zu unserem Bildungssystem.

Viele dieser Forderungen sind im “Position Paper on Age Assessment in the Context of Separated Children in Europe“ der gemeinsamen Initiative des UNHCR und verschiedener Nichtregierungsorganisationen enthalten. Dieses Handbuch wird als Basis der „Best Practice” für minderjährige Flüchtlinge in Deutschland und den anderen europäischen Ländern empfohlen.

Berlin, 7. Juni 2015