15.08.2024

Gemeinsames Statment zum jahrestag der machtergreifung der Taliban

Bedrohte afghanische Menschenrechtler*innen dürfen nicht ihrem Schicksal überlassen werden. Das Bundesaufnahmeprogramm und weitere Aufnahmemöglichkeiten müssen fortgesetzt, beschleunigt und ausgeweitet werden. Kapazitäten für zivilgesellschaftliche Unterstützung müssen ausgebaut werden.

Drei Jahre nach der Machtübernahme der Taliban sind Menschen in Afghanistan, die sich dort für
Demokratie und Menschenrechte eingesetzt haben, stärker denn je gefährdet. Menschen, die in
allen gesellschaftlichen Bereichen demokratische Werte verbreiteten – etwa als Lehrer*innen,
Journalist*innen, Ärzt*innen, Richter*innen, Anwält*innen, Politiker*innen,
Menschenrechtsaktivist*innen und Kulturschaffende – sowie Ortskräfte werden immer stärker
verfolgt, willkürlich inhaftiert, gefoltert und hingerichtet. Sie müssen sich unter prekären
Bedingungen versteckt halten, um zu überleben.


Für manche Personengruppen ist die Bedrohung besonders akut. Frauen wurden seit der
Machtübernahme systematisch aus allen Teilen der Gesellschaft ausgeschlossen. Mädchen ist der
Schulbesuch ab der siebten Klasse verboten, Frauen dürfen weder arbeiten noch studieren oder
allein das Haus verlassen. Viele sind von Zwangsehen und brutalen Strafen wie sexuellen
Misshandlungen in Haft, Auspeitschungen und Steinigungen bedroht. Die „schwerwiegende,
systematische und institutionalisierte Diskriminierung gegen Frauen“ durch die Taliban ist eine Art
„Gender-Apartheid“. Queere Personen sind sogar als gesamte Gruppe direkt in ihrer Existenz
bedroht, weil die Taliban angekündigt haben, diese Menschen durch Folter, Steinigung oder
lebendiges Begraben zu vernichten.


Demokratie muss durch Zivilgesellschaft geschützt werden
Wir möchten unsere Solidarität mit den Menschen in Afghanistan, die ihr Leben aufs Spiel gesetzt
haben, um demokratische Werte zu verteidigen, ausdrücken. Als zivilgesellschaftliche Organisationen
sehen wir es als unsere Pflicht, nicht nur Menschenrechte in Deutschland zu verteidigen, sondern uns
auch für diejenigen einzusetzen, die dies in ihrem Land tun. So unterschiedlich die Umstände sind,
unter denen wir arbeiten – uns verbindet die gemeinsame Überzeugung, dass ein Leben in Würde für
alle erreichbar sein soll. Viele der aktuellen Krisen und Konflikte haben grenzübergreifende Ursachen
und müssen deswegen auch grenzübergreifend bearbeitet werden. Gerade am Beispiel Afghanistan
lässt sich gut beobachten, welche Folgen drohen, wenn zivilgesellschaftliche Interessen bei der
internationalen Zusammenarbeit nicht hinreichend berücksichtigt werden. Es ist fatal, dass das Doha-
Abkommen beschlossen wurde, ohne die bereits etablierten Rechte und Freiheiten der afghanischen
Bevölkerung zu sichern, obwohl es ein wichtiges Ziel der internationalen Zusammenarbeit war, die
Demokratisierung in Afghanistan zu stärken und die Verteidigung der Menschenrechte zu
unterstützen. Und obwohl es klar war, dass es dafür unter den Taliban keinen Platz geben würde.


Deutschland hat eine humanitäre Verantwortung
Wenn – wie in Afghanistan – die Lebensbedingungen im eigenen Land zu gefährlich werden, sind
Menschen gezwungen, ihr Land zu verlassen. Sie verlassen ihre Heimat und damit die Menschen und
Orte, mit und an denen sie ihr Leben bisher aufgebaut hatten. Die Entscheidung, aus dem eigenen
Land zu flüchten, wird nie leichtfertig getroffen. Diese Menschen zu schützen, ist eine humanitärePflicht Deutschlands. Aufgrund seiner Beteiligung am zwei Jahrzehnte dauernden internationalen
Militäreinsatz in Afghanistan hat Deutschland eine besondere Verantwortung gegenüber
gefährdeten Afghan*innen, zu der die Bundesregierung sich im Koalitionsvertrag bekannt hat.
Die zu späten und chaotischen Evakuierungen aus Afghanistan nach dem August 2021 zerstörten zu
viele Menschenleben. Weil politische Entscheidungsträger*innen die Einschätzungen von
Expert*innen vor Ort nicht ernst genug nahmen. Weil die Länder, die am internationalen Einsatz
beteiligt waren – auch Deutschland – ihr Versprechen, ihre Verbündeten nicht im Stich zu lassen,
nicht ausreichend einhielten.


Es braucht sichere Fluchtwege für gefährdete Afghan*innen
Wir fordern, dass sichere Fluchtwege für gefährdete Afghan*innen weiterhin ermöglicht und
ausgebaut werden, unter anderem über das Bundesaufnahmeprogramm und über
Landesaufnahmeprogramme:Das Bundesaufnahmeprogramm Afghanistan muss in vollem Umfang fortgesetzt und finanziert werden. Ausreisen müssen beschleunigt werden. Neben der Möglichkeit, einen Asylantrag in Deutschland zu stellen, sind solche Programme notwendig, damit besonders vulnerable und gefährdete Menschen auch tatsächlich Schutz suchen können: Personen, die unter anderem aufgrund ihres Alters, ihres Gesundheitszustands, ihres Geschlechts, ihrer sexuellen Orientierung und/oder geschlechtlichen Identität besonderen Risiken ausgesetzt sind, neben den ohnehin großen Gefahren auf den Fluchtwegen nach Europa.

  • Das Ortskräfteverfahren muss so reformiert werden, dass alle gefährdeten Personen, die für Deutschland gearbeitet haben, Schutz erhalten.
  • Der Familiennachzug für subsidiär Schutzberechtigte muss erleichtert und beschleunigt werden. Aktuell bleiben Familien oft aufgrund bürokratischer Hürden und Personalmangel in den zuständigen Behörden über Jahre getrennt. Diese Barrieren müssen abgebaut werden.
  • Abschiebungen nach Afghanistan dürfen nicht stattfinden.
  • Damit Schutzsuchende nach Ankunft in Deutschland die notwendige Unterstützung bekommen, um ein neues Leben hier aufzubauen, fordern wir zudem einen Ausbau der Kapazitäten für Unterbringung, Beratung und gesundheitliche Versorgung.

Wir dürfen die Menschen in Afghanistan nicht vergessen. Durch unsere Solidarität mit ihnen
möchten wir unsere gemeinsamen demokratischen Werte verteidigen.


Unterzeichnende Organisationen (alphabetisch):
Afghan Women Activist's Coordinating Body (AWACB)
Afghanischer Aufschrei Düsseldorf
AfghanistanNotSafe KölnBonn
Afghanistan-Schulen, Verein zur Unterstützung von Schulen in Afghanistan e.V.
Amnesty International, Bezirk Düsseldorf
Amnesty International, Gruppe 1004
Artistic Freedom Initiative
AWO Bundesverband e.V.Behandlungszentrum für Folteropfer Ulm
Beratung + Leben gemeinnützige GmbH, Migrationsberatung für Erwachsene in Berlin
Berliner Netzwerk für besonders schutzbedürftige geflüchtete Menschen (BNS)
Brücke Schleswig-Holstein gGmbH
Bundesarbeitsgemeinschaft PRO ASYL e.V.
Bundesfachverband unbegleitete minderjährige Flüchtlinge (BumF) e.V.
Bundesweite Arbeitsgemeinschaft der psychosozialen Zentren für Flüchtlinge und Folteropfer
(BAfF e.V.)
Caritasverband für die Stadt Köln e.V.
Der Paritätische Gesamtverband
Deutscher Anwaltverein
Diakonie Deutschland
Dr. Jörg Hutter, Bundesvorstand Lesben- und Schwulenverband Deutschland (LSVD)
DSPZ (DeutschSchweizer PEN Zentrum)
European Organisation for Integration e.V.
FAM - Frauenakademie München e.V.
Flüchtlingsrat Berlin e.V.
Flüchtlingsrat Niedersachsen e.V.
HÁWAR.help e. V.
IPPNW - Ärzt*innen in sozialer Verantwortung e.V.
Kabul Luftbrücke
KommMit e.V. / PSZ Brandenburg
Lichtpunkt | Traumatherapie- und Psychosoziales Zentrum e.V.
Louise-Aston-Gesellschaft e.V.
medico international
Medizinische Flüchtlingshilfe Bochum e.V.
MISSION LIFELINE International e.V.
Mosaik Leipzig - Kompetenzzentrum für transkulturelle Dialoge e.V.
move on - menschen.rechte Tübingen e.V.
Nadia Murad Zentrum
Niederdeutsch-Friesisches PEN-Zentrum e.V {aspiring}
Psychosoziales Zentrum DresdenPsychosoziales Zentrum für Flüchtlinge Nürnberg
Psychosoziales Zentrum Pfalz
PSZ Bielefeld
PSZ des Ev. Regionalverband Frankfurt und Offenbach
Refugio Bremen
Refugio München
Refugio Stuttgart e.V.
refugio thüringen e.V.
Refugio Villingen-Schwenningen, Psychosoziales Zentrum für traumatisierte Flüchtlinge
Schwulenberatung Berlin
Stitching for School and Life e.V. - SSL e.V.
TERRE DES FEMMES - Menschenrechte für die Frau e.V.
Traumanetzwerk Lörrach
VAF Bonn e.V. (Verein für Afghanistanförderung)
Wir packen's an e.V. - Nothilfe für Geflüchtete
Zentrum ÜBERLEBEN